Artikel von Bea Heim im Tages Anzeiger vom 3.9.07
Eine Schweiz, die rationiert, verscherzt das Vertrauen der Bevölkerung in die ärzte, die Pflegenden und mit Sicherheit in die Gesundheitspolitik. Wir brauchen ein glaubwürdiges, nationales Qualitätsinstitut.
Man spricht nicht gern darüber. Doch die Rationierung medizinischer Leistungen ist eine Tatsache, obwohl Verfassung und Gesetz allen eine gute medizinische Versorgung garantieren. Den Ärzten und Spitälern ist nicht wohl dabei, darum verlangen sie nach Regeln. Der Präsident der Schweizer ärzteverbindung FMH, Jacques de Haller, macht Vorschläge: bei Kopfschmerzen unklarer Herkunft zum Beispiel soll drei bis vier Wochen zugewartet werden. Wo bleibt da die Prävention, die Früherkennung? So präsentiert der FMH-Präsident die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs einzig unter der Optik des Preises. Er unterschlägt die Tatsache, dass Gebärmutterhalskrebs die zweithäufigste Todesursache bei Krebs für Frauen ist. Ist eine solche Informationspolitik redlich? Macht die Kostendiskussion die Ärzte derart hilflos, dass sie sich zum Nachteil der Kranken den eigenen Ast absägen?
Sachlichkeit und Konsequenz sind heute gefordert – und endlich eine fundierte Qualitätsdebatte. Doch der Schweiz fehlen die Instrumente für einen gesicherten, im internationalen Vergleich glaubwürdigen Qualitätsnachweis. Schade fÜr den grossen Einsatz der Pflegenden und Ärzte, schade fÜr das VertrauensverhÄltnis zwischen Arzt und Patient und schade fÜr unsere wissenschaftliche Zukunft. Gerade der Gesundheitsbereich kÖnnte fÜr die Schweiz ein Wachstumsmarkt mit internationaler Ausstrahlung werden, der ArbeitsplÄtze in guten und schlechten Zeiten sichert. Um die von Bundesrat Couchepin entworfene Vision vom Gesundheitsland Schweiz zu verwirklichen, muss aber noch vieles geschehen.
Denn der gesundheitspolitische Diskurs fokussiert fast nur auf den Kostenwettbewerb. Was die Bevölkerung aber erwartet, ist eine gute Behandlungs- und Ergebnisqualität, den Wettbewerb um die beste Qualität. Doch die Schweiz kennt keine nationale Qualitätsstrategie, keine gesicherten Daten, Indikatoren oder Bewertungsinstrumente. Ein echter Qualitätsvergleich zwischen den Spitälern macht so wenig Sinn. Er muss jedenfalls mehr sein als der Comparis-Vergleich basierend auf der Patientenzufriedenheit.
Der Bund erfüllt seine Pflicht nicht
Das sensible Thema des Qualitätsnachweises darf nicht der Wettbewerbsdynamik von Einzelgesellschaften oder Vertretern von Partikularinteressen wie H+ (Vereinigung schweizerischer Krankenhäuser) überlassen werden. Sie können als Wegbereiter eine willkommene Rolle spielen, mehr jedoch steht ihnen nicht zu. Viel mehr braucht es dazu wissenschaftlich gesicherte Indikatoren, vereinbart und gemeinsam getragen von den Leistungserbringern, den Kassen, der Patientenschaft und der öffentlichen Hand.
Doch seit 12 Jahren lässt der Bund seine gesetzliche Pflicht zur medizinischen Qualitätssicherung unerfüllt. Er delegiert sie an Versicherer und die Leistungserbringer und steht doch in der Verantwortung. Das Fehlen von Qualitätskonzepten hat zu unkoordinierten Partikulär-Systemen geführt. Es gibt keine Abstimmungen zwischen den diversen Akteuren, keine Koordination, keine Mindestanforderungen an die medizinische Qualität und keine Vorgaben zur Einheitlichkeit in zentralen Punkten.
Im Zusammenhang mit neuen Finanzierungsmodellen wie der Einführung von Fallpauschalen stehen keine Konzepte zur Beurteilung der Auswirkungen auf die Behandlungsqualität zur Verfügung, obwohl aus dem Ausland viele Probleme bekannt sind. Zum Beispiel dasjenige der blutigen Entlassungen, die im Endeffekt die Sparbemühungen Lügen strafen.
Dabei kann Qualität Kosten sparen, dies insbesondere durch Minimierung von Patientenrisiken, Fehlern, erneuten Hospitalisierungen, überflüssigen Untersuchungen und Doppelspurigkeiten. Man bedenke, dass auf Grund von Irrtümern in der Medikation heute mit Mehrkosten von jährlich fast einer Milliarde zu rechnen ist, dass vermehrtes Händewaschen in Spitälern zu Einsparungen von rund 230 Millionen pro Jahr führen könnte, dass mit der Vermeidung von unnötigen Eingriffen laut Prof. F. Cavalli weitere drei Milliarden weniger Gesundheitskosten anfallen würden. Die Rationierungsdebatte führt in die Sackgasse. Versicherte wie Patientinnen und Patienten erwarten, dass sich das Gesundheitswesen dem Wettbewerb um die beste Qualität stellt und sich Wissenschaft, Know-How und Zusammenarbeit auf die Patientensicherheit und der nachweislichen Qualitätssicherung konzentriert. Der Politik ist vorzuhalten, dass sie mit der einseitigen Fokussierung auf die Gesundheitskosten die Augen vor dem Potenzial der Wirtschaftlichkeit verschliesst, die auf der Basis einer konsequenten Qualitätsstrategie möglich wäre. Ja, dass sie damit den Diskurs auf die schiefe Bahn der Rationierung lenkt. Das ist eine Kapitulation vor den unterschiedlichen Interessen, und zwar auf Kosten der Patientinnen und Patienten.
Ein Gesundheitswesen, das sich nicht dem Qualitätsnachweis stellt und stattdessen die Rationierung predigt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, das Hauptziel, zum Wohl der Kranken zu handeln, zu verraten. Ich wage die Behauptung, dass eine Rationierung wohl nur jene treffen würde, die sich keine Zusatzversicherung leisten können, also Menschen mit kleinen Einkommen, Familien, chronisch Kranke und Ältere. Noch nie haben sich Patientinnen und Patienten mit einem Gang auf die Strasse zur Wehr gestellt. Doch denken wir daran, der gesundheitspolitische Friede ist ein hohes Gut. Wenn wir dem Vormarsch der Zweiklassenmedizin nicht entschieden und qualifiziert, d.h. mit wissenschaftlich abgestÜtzter Konzeption, den Riegel schieben, stellen wir den gesundheitspolitischen Frieden und das Image Schweiz als Gesundheitsland in Frage.