Qualitätsrahmen: Der Bund ist gefordert
Interview mit Bea Heim in der Zeitschrift „Management Care“, Ausgabe 3/2007
Der Bund ist gefordert Auf Initiative der Nationalrätin Bea Heim wurde im März 2005 eine Motion überwiesen, die den Bundesrat beauftragt, die medizinische Qualitätssicherung zu regeln, zu steuern und zu koordinieren.
Welche Aspekte sind nach zwei Jahren umgesetzt, und was ist noch zu erwarten? Diese Fragen diskutieren Bea Heim und die direkt Verantwortlichen des BAG und der FMH, Peter Indra und Olivier Kappeler.
Managed Care: Frau Heim, gibt es bis heute konkrete Ergebnisse zu Ihrer Motion?
Bea Heim: Punktuell sind verschiedene Projekte zur Qualitätssicherung lanciert worden, zum Beispiel das Hygieneprojekt zur Reduktion der Infektionen in Spitälern. Qualitätsrelevant ist auch die Diskussion um Mindestfallzahlen. Zwar sind Ärztenetzwerke besonders aktiv, doch von einer ganzheitlichen Qualitätsstrategie sind wir weit entfernt. Der Direktor des BAG, Dr. Thomas Zeltner, bezeichnet die Schweiz hinsichtlich der medizinischen Qualitätssicherung offen als Entwicklungsland.
Die Kommissionsmotion fordert den Bund auf, eine Führungsrolle zu übernehmen, damit Art. 58 KVG umgesetzt wird. Konkret verlangt sie die Bildung einer nationalen Plattform zur Koordination der Aktivitäten und Verantwortlichkeiten. Welche Schritte sind hier eingeleitet worden?
Heim: Mir ist nicht bekannt, dass der Bund bezüglich Motion aktiv geworden wäre. Ein Blick in die St. Galler Studie1[1] von 1991 zeigt, dass wir kaum weiter sind als damals. Die Politik konzentriert sich auf die Kosten und kümmert sich wenig um die Versorgungsund Behandlungsqualität.
Die Erarbeitung von konkreten Qualitätskonzepten ist mit dem KVG 1996 an die Leistungserbringer delegiert worden. Warum haben die Ärzte ihre Chance für Vorwärtsstrategien nicht ergriffen? Was bisher realisiert wurde, kommt meist aus der Küche von Managed Care.
Olivier Kappeler: Zuerst war die Ärzteschaft der Qualitätssicherung gegenüber tatsächlich skeptisch eingestellt. Doch dass die Chance nicht genutzt wurde, trifft nicht zu. Es gibt eine Vielfalt von Aktivitäten unter dem Begriff Qualität, zum Beispiel die Weiter- und Fortbildungsordnung oder das Konzept der Dignität im Tarmed. Ich möchte auch die zahlreichen Projekte der Kantone und Fachgesellschaften erwähnen. Ärztinnen und Ärzte in den Managed-Care-Modellen nehmen eine Vorreiterrolle ein. Aus der Optik der Ärzte besteht jedoch auch ein gewisser Qualitätsüberdruss, es wird immer mehr geregelt, vom Labor bis zu den Windeleinlagen.
Im KVG wie in der Motion werden ganzheitliche Konzepte gefordert und nun auch eine aktive, koordinative bis normative Rolle des Bundes. Was unternimmt das BAG diesbezüglich?
Peter Indra: Das Thema Qualität ist in die tägliche Arbeit vieler Fachbereiche des BAG 1 Studie zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen der Forschungsgruppe an der Hochschule St. Gallen 1991 Peter Indra Bea Heim Olivier Kappeler Managed Care 3 2007 MEDIZINISCHE QUALITÄTSSICHERUNG: STANDORTBESTIMMUNG 7 eingeflossen und dort zu einem wichtigen Anliegen geworden, nicht zuletzt durch die Initiativen von Frau Heim. Dies betrifft insbesondere die Sektionen medizinische Leistungen, Tarife und Leistungserbringer sowie Medikamente und Grundlagenforschung. Auch mir persönlich ist die medizinische Qualität ein sehr grosses Anliegen. Hier sieht sich das BAG immer mehr in einer Drehscheibenfunktion, um die diversifizierten Qualitätsaktivitäten zu koordinieren.
Doch die vom Parlament verlangte nationale Plattform ist kein Thema?
Indra: Ich sehe im Moment unsere Aufgabe vordringlich in der Koordination und Moderation auf allen Ebenen der Qualitätssicherung. Es ist wichtig, diese Aktivitäten transparent zu machen, und dazu muss der Begriff Qualität gemeinsam diskutiert werden, ebenso, was konkret zu messen, zu dokumentieren und zu erreichen ist. Zur Richtungsgebung hat der Bund sechs Punkte formuliert, sie betreffen Fehlermeldesysteme, Evaluation der Patientensicherheit, Mindestfallzahlen, Angemessenheit von Therapien, nationale Datenbank für Qualitätsindikatoren und Systemtransparenz.
Trotz dieser Aktivitäten lässt die Umsetzung des Motionsauftrags weiter auf sich warten. Ist dies nicht etwas gar viel Pragmatismus?
Indra: Man muss berücksichtigen, dass uns schlicht die Ressourcen für weiterreichende Aktivitäten fehlen. Realistischerweise heisst dies, dass wir auf bestehende Plattformen zurückgreifen. Mit zwei Plattformen haben wir die Zusammenarbeit intensiviert, mit der Stiftung für Patientensicherheit und der nationalen Plattform KIQ[2].
Können die Kommissionsmotionäre und die Initiantin damit zufrieden sein?
Heim: Die blosse Diffusion der Qualitätsthematik in die tägliche Arbeit des BAG ist nicht fassbar und kann nicht genügen. Die Motion verlangt, dass das KVG endlich umgesetzt wird. Der Bund steht in der Pflicht, für ein wirtschaftliches, aber auch wirksames und zweckmässiges Gesundheitswesen zu sorgen. Doch ihm fehlen die Qualitätsnachweise in Versorgung und Behandlung. Weder gibt es validierte Indikatoren[3] der klinischen Qualität noch eine nationale Gesundheitsund Qualitätsstrategie. Für die Versicherten jedoch ist die Behandlungsqualität die zentrale Frage. Zu Recht, denn je grösser der Kostendruck, desto wichtiger wird die Qualitätsfrage.
Welche Rolle kommt dabei dem Bund zu?
Heim: Die Qualitätssicherung ist nicht als Top-down-Prozess zu sehen. Es braucht die Mitwirkung aller Akteure wie Bund, Kantone, Versicherer und Leistungserbringer sowie einer Patientenvertretung. Eine solche nationale Plattform soll projektorientiert arbeiten, nach Zielen und Terminen, die mit dem Bund vereinbart sind. Der Bund hat für die Realisierung einer nationalen Qualitätsstrategie zu sorgen. Eine multidisziplinäre Kommission ist mit den Vorbereitungen zu beauftragen, und auf Einigungskonferenzen ist der Konsens zu finden. Das Primat der Wirtschaftlichkeit muss durch starke Impulse seitens der Qualität gebrochen werden.
Indra: Ich sehe die Rolle des Bundes auf drei Ebenen. Zunächst sollen bereits vorhandene Initiativen der Basis, insbesondere der Leistungserbringer, gefördert werden. Zweitens sollen über eine sinnvolle Anreizsteuerung Qualitätsprozesse in Gang gesetzt werden, zum Beispiel über die Unterstützung von qualitätsrelevanten Projekten. Und als Topdown- Ansatz sehe ich – neben der blossen Koordination und der Schaffung von Voraussetzungen – durchaus auch die Vorgabe von essenziellen Versorgungszielen und in diesem Zusammenhang auch von qualitativen Mindestanforderungen.
Dies alles setzt voraus, dass die Behandlungsqualität definiert, bewertet und transparent gemacht wird. Gibt es dazu von ärztlicher Seite konkrete Vorstellungen?
Kappeler: Qualität lässt sich nicht durch einen einzigen Partner definieren, es müssen verschiedene Sichtweisen einfliessen. Und Transparenz ist wichtig, doch braucht es neben einem öffentlichen auch einen geschützten Rahmen, ein Fehlermeldesystem etwa braucht solche Vertraulichkeit unbedingt. Gegen eine Schlüsselrolle durch den Bund im Sinne von Initialisieren, Voraussetzungen schaffen, Moderieren und Prozesse sichtbar machen habe ich keine Bedenken.
Im Beispiel der Fehlermeldesysteme ist die Vertraulichkeit tatsächlich eine Conditio sine qua non. Aber es ist nicht einzusehen, weshalb die ambulante und stationäre Behandlungsqualität vertraulich sein soll. Haben die Patienten nicht ein Recht auf Information?
Heim: Sicher, vor allem sollen sie die Gewissheit haben, dass die Qualität von Diagnose und Behandlung oberste Priorität hat. Wir verlangen den Nachweis, dass qualitätssichernde Instrumente – wie zum Beispiel CIRS[4] – genutzt werden und dass daraus gelernt wird. Eine Veröffentlichung von Qualitätsergebnissen erachte ich zurzeit nicht als sinnvoll, weil dies nach Sanktionen riecht. Positive Anreize zur Förderung der Qualitätssicherung und der Patientensicherheit – ein Postulat, das der Bundesrat bejaht – führen weiter.
Nochmals zur Frage der Definition und Bemessung der Qualität: Es gibt international validierte Bemessungssysteme wie etwa das EPA-Assessment[5] oder das darauf aufbauende Equam-Praxiszertifikat[6]. Wer beurteilt in Zukunft nach welchen Kriterien und Indikatoren?
Heim: Qualitätskriterien und ihre Bemessung können nicht allein Sache der Kassen oder der Ärzte sein. Es braucht eine übergeordnete Plattform, welche die Unabhängigkeit der Beurteilung garantiert. Die mir bekannten Massstäbe sind noch zu sehr auf die Struktur- und Prozessqualität fokussiert.
Es gibt bereits heute unbestrittene Indikatoren und Standards[7] zur Qualität der klinischen Leistungsverrichtung. Liesse sich nicht jetzt schon ein wirksames erstes Set an Indikatoren und Standards mit einer akzeptierten Allgemeingültigkeit formulieren?
Kappeler: Es würde sich tatsächlich lohnen, auf der erwähnten Konsensbasis ein erstes Set von Qualitätsindikatoren zu definieren. Dabei könnte man den Ärzten zur Wahl stellen, welchen Indikator man während eines Jahres zum Thema machen will. Diese Wahl soll erst einmal unabhängig von Honorierungen oder Sanktionierungen geschehen, sie soll Bewegung und Auseinandersetzung initiieren.
Indra: Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen erfordern eine Konsenslösung. Es geht um Lebensqualität aus Sicht des Patienten, um fachliche Qualität aus Expertensicht, also Evidence based Medicine, und um ein effizientes Qualitätsmanagement. Was wir als Return on Investment erhalten wollen, muss in einem Einigungsprozess gemeinsam definiert werden. Hier sehe ich den Bund als Mediator.
Heim: Mit der nationalen Plattform soll die Qualitätssicherung als Prozess der kleinen Schritte überall in Gang gebracht werden. Der Bund als Mediator hat den Lead. Im Übrigen hat er sich um die Rahmenbedingungen wie die Verbesserung des Risikoausgleichs, die Etablierung einer genügenden Datenbasis und die Eliminierung jener wirtschaftlichen Anreize, welche den Qualitätsanforderungen zuwiderlaufen, zu kümmern.
Die mehrmals angesprochenen Einigungsprozesse sind erfahrungsgemäss langwierig. Bis dahin muss auch einiges für die Patientensicherheit und die Behandlungsqualität getan werden. Was wird der Bund dazu beitragen?
Indra: Bei allen notwendigen langfristigen Konzepten und Strategien: Im Moment praktikabel und sehr zentral ist die Auswertung vorhandener Daten und damit das Schaffen von Transparenz. Wenn man die vielen Aktivitäten und Projekte in der Qualitätssicherung konzentrieren und koordinieren würde, wären auch die nötigen Finanzen für weitergehende Schritte verfügbar. Ich denke beispielsweise an eine Vernetzung der CIRS-Projekte oder die Definition von Kriterien für gute und förderungswürdige Projekte.
Es geht also um Vorgaben und Anreizsteuerung über Projektförderung. Sind da auch Mindestanforderungen ein Thema?
Indra: Ja, hier sind die Fachgesellschaften aufgefordert, vermehrt Stellung zu ihren Minimal Standards[8] zu beziehen. Es sollten auch Labels geschaffen werden, die für Patienten und Konsumenten Transparenz schaffen.
Auch zum Stichwort Label die Frage: welche durch wen nach welchen Kriterien?
Indra: Im stationären Bereich ist diese Instanz im Moment der Verband H+[9] , doch längerfristig könnte dies auch der Bund in Form von Rahmenbedingungen oder Eckwerten sein.
Kappeler: Ein erster Schritt ist – wie erwähnt – die gemeinsame Definition von Indikatoren. In einem zweiten Prozess soll über Mindestanforderungen gesprochen werden, wobei hier vor allem die Fachgesellschaften gefordert sind. Vorgaben durch den Bund sind heikel und müssen von Fall zu Fall ausdiskutiert werden, doch die Rahmenbedingungen sollten formuliert werden. Dass in einem dritten Schritt ein sichtbares Label folgt, ist möglich, jedoch nicht zwingend notwendig.
Frau Heim, es gibt viele Ansätze, noch wenig Koordination und noch keine Rahmenbedingungen. Welche Bilanz werden wir nach weiteren zehn Jahren ziehen können?
Heim: Es ist im Interesse aller, dass sukzessive konkrete Schritte eingeleitet werden, um Qualitätssicherung und Patientensicherheit auf eine neue Basis zu stellen. Hier ist auch der Bund gefordert. Es sind Anfänge in die richtige Richtung gemacht worden. Wo wir in zehn Jahren stehen, kann ich nicht abschätzen. Als Parlamentarierin ist es aber meine Aufgabe, weiter an dieser Thematik zu arbeiten und immer wieder kleine Zwischenbilanzen zu ziehen.
Die Interviewpartner:
Bea Heim Nationalrätin Kanton Solothurn, Mitglied der staatspolitischen Kommission und Ersatzmitglied der Sozial- und Gesundheitskommission des Nationalrates
Dr. med. Peter Indra MPH Vizedirektor und Leiter des Direktionsbereichs Kranken- und Sozialversicherung im Bundesamt für Gesundheit
Dr. med. Olivier Kappeler Allgemeine Medizin FMH, Mitglied des Zentralvorstands FMH, leitet in dieser Funktion das Ressort DDG – Daten, Demografie, Qualität Das Interview führte Kurt
[1] Studie zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen der Forschungsgruppe an der Hochschule St. Gallen 1991
[2] KIQ: Koordinations- und Informationsstelle für Qualität
[3] Qualitätsindikatoren: Messbare Grössen mit anerkannter Qualitätsrelevanz
[4] CIRS (Critical Incidence Reporting System): Fehlermeldesystem, Methodik des Risikomanagements, um qualitäts- und sicherheitsrelevante Probleme zu erkennen und zu analysieren
[5] EPA (European Practice Assessment): Internationales, in Europa führendes System eines umfassenden Qualitätsmanagements
[6] Equam (Externe Qualitätssicherung in der Medizin): Unabhängige und vom Bund akkreditierte Stiftung zur Praxiszertifizierung, arbeitet mit EPA/Swisspep zusammen und baut auf deren validierten Indikatoren auf
[7] Qualitätsstandards: Von den Indikatoren abgeleitete und mit «Messlatten» nach Evidence based Medicine versehene Grössen (z.B. Minimal Standards)
[8] Mindestanforderungen
[9] H+: Interessenverband der Schweizer Spitäler und anderer Institutionen der stationären Versorgung