Um das schweizerische Gesundheitswesen vernünftig zu steuern, muss die Datenlage dringend verbessert werden, findet die Solothurner SP-Nationalrätin Bea Heim.
Der Ständeratsentscheid in Flims bezüglich der Pflegefinanzierung stösst in Fachkreisen auf Kritik. Die Begründungen einiger Standesvertreter, so die Meinung, lasse auf wenig Kenntnis der Zahlen und Fakten schliessen. Das Problem ist jedoch genereller Natur. Der Schweiz fehlt schlicht ein Gesundheitsinformationssystem. In den meisten Bereichen ist die Daten-lage und damit das Grundlagenwissen ungenügend oder gar nicht vorhanden. Ist der Bund mit seinen Gesundheitsreformen auf dem richtigen Weg oder werden die Kosten einfach in andere Bereiche verlagert? Gelingt es die Weichen für eine kohärente Gesundheitspolitik zu stellen oder fokussiert man sich der Einfachheit halber lieber auf die Kosten einzelner Bereiche? Mal Spitex, mal die Rehabilitation, mal die Psychiatrie usw.
Im Zuge der KVG-Revision hat das Parlament im vergangenen Jahr wichtige Beschlüsse ge-fasst, um Gesundheitsdaten künftig besser zu koordinieren und für relevante Stellen zugäng-lich zu machen. Diese Bemühungen um mehr Transparenz und verbesserten Datenzugang sind zweifellos richtig. Bei näherer Betrachtung aber sind sie nur ein erster Schritt auf dem Weg, das Schweizer Gesundheitssystem künftig rational zu steuern. Nach wie vor bestehen grosse Defizite, insbesondere bei den statistischen Datengrundlagen selber: Diese sind für eine wissensbasierte Gesundheitspolitik völlig unzureichend. Zwar gibt es heute bereits viel-fältige Datenflüsse zwischen einzelnen Akteuren des Gesundheitswesens; aber sie sind viel-fach lückenhaft und ungenügend, zum Beispiel im ambulanten Bereich oder in der Pflege. Zu diesem Schluss kommt auch die OECD in ihrer Analyse des schweizerischen Gesundheits-wesens: «Die Debatte über die nötigen Gesundheitsreformen findet in einem Umfeld statt, in dem aufgrund der in den meisten Bereichen ungenügenden Datenlage keine evidenzbasier-ten Entscheidungen getroffen werden können», so der Kommentar im jüngsten OECD-Bericht.
Datenlücken im ambulanten Bereich
Wo also besteht Handlungsbedarf? Das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) in Bern analysierte in meinem Auftrag die in der Schweiz vorhandenen Datenbanken mit gesundheitspolitisch relevanten Informationen und beurteilte die Qualität der Datenlage. Die Bass-Experten identifizierten dabei eine ganze Reihe von Problembereichen. Einige Beispiele:
- Die Datenlage zur Häufigkeit der wichtigsten Krankheiten ist sehr lückenhaft. Zwar existieren Daten aus einzelnen Krankheits-Registern, etwa aus den neun kantonalen Krebsregistern, aber diese sind nicht einheitlich geführt. Durch diesen Mangel an Information werden Kostenprognosen äusserst schwierig, kostenlenkende Entscheide ebenfalls.
- Informationen zu Fallkosten sind insgesamt ungenügend. Im stationären Bereich sind zwar auf Bundesebene zwei Statistiken im Aufbau, aber im ambulanten Bereich gibt es noch gar keine Daten, und integrierende Daten über ganze Verhandlungsverläufe schon gar nicht. Bei der stetigen Verschiebung der Kostenlast vom stationären in den ambulanten Bereich (15, 2 Milliarden Franken im Jahr 2004, also über 2000 Franken pro Einwohner in der Schweiz) wäre aber gerade hier eine Statistik dringend nötig.
- Für die Qualität der erbrachten medizinischen Leistungen gibt es weder einen breiten Benchmark noch einheitliche Messinstrumente. Die Daten sind auch hier ungenügend. Das gleiche gilt für pflegerische Leistungen: Es existieren weder einheitliche Erhebungen noch Qualitätsbeurteilungen. Es stellt sich die Frage, ob und wann es gelingt, weg vom reinen Wettstreit um die tiefsten Kosten hin zu einem echten Wettbewerb der guten Qualität und der Kosteneffizienz zu finden.
- Die Datenlage zur Über- oder Unterversorgung nach Bereichen ist ungenügend. Es fehlen allgemein verbindliche Vorstellungen über die minimale bzw. optimale Versorgung. Mass-nahmen zur Steuerung des Gesundheitssystems, die sich auf einzelne Leistungen, Leistungserbringer oder Preise beziehen, haben daher oft zufälligen Charakter. Sie können in einem Bereich zwar die Kosten senken; unter Umständen verlagern sich diese aber ein-fach auf die nachgelagerte Versorgung. Ein Beispiel dafür ist die Wirksamkeit von Rehabi-litations-Massnahmen, die der Bundesrat überprüfen will: Bei der Rehabilitation älterer Men-schen stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Leistungen aus der Grundversorgung gestrichen werden sollen, ohne dass PatientInnen verfrüht pflegebedürftig und die Pflegekosten zusätzlich in die Höhe getrieben werden.
- Über die sogenannten Hochkostenfälle besteht kaum Information. «Aufgrund der ungenü-genden Datenlage ist eine Auswertung von Hochkostenfällen nach Erkrankungen und medi-zinischen Leistungen nicht möglich», stellt das Bundesamt für Gesundheit fest. Man weiss, dass rund 30 Prozent der Erkrankten mit den höchsten Kosten zirka 80 Prozent der Gesamt-kosten in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung verursachen. Die Zusammen-setzung dieser Kosten hingegen bleibt schleierhaft. Weder sind die verschiedenen beteiligten Leistungserbringer und deren Zusammenarbeit bekannt, noch kennt man die Kosten- und Behandlungsverläufe über eine längere Zeitspanne. Für die Analyse der Kostenentwicklung ist dies eine gravierende Wissenslücke. Was wäre, wenn die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hauptsächlich auf die Steigerung der Hochkostenfälle zurückginge? In diesem Fall wäre nicht nur die Kostendiskussion verzerrt, auch viele Kosten eindämmenden Massnahmen würden nicht die erhofften Resultate erbringen, ja sogar Fehlentwicklungen zur Folge haben.
Wenig Aufwand – grosser Ertrag
Das Büro Bass kommt in seiner detaillierten Untersuchung zum Schluss, «dass die Daten-lage insgesamt nicht befriedigend ist» – in Analogie übrigens nicht nur zum OECD-Bericht, sondern auch zur Analyse der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, die ebenfalls schon auf Lücken bei den Gesundheitsdaten hingewiesen hatte.
Der Handlungsbedarf ist daher ausgewiesen und gross. Dabei muss eine Verbesserung der Datenlage nicht zwingenderweise viel kosten. Wie mit wenig Aufwand viel erreicht werden kann, zeigt das Beispiel der sogenannten Medikamenteninteraktion: Patienten, die an uner-wünschten Wirkungen von Arzneimitteln leiden, etwa aufgrund einer Allergie, verursachen durchschnittlich 32 Prozent zusätzliche Kosten und haben im Spital eine um 56 Prozent er-höhte Aufenthaltsdauer. Solche unerwünschten Wirkungen sind ein wesentlicher Einwei-sungsgrund, die Schweizerische Ärztezeitung gibt ihre Häufigkeit mit 7 bis 14 Prozent an. Werden aber solche Risiken frühzeitig erfasst, können Medikationsfehler und deren Folge-kosten vermieden werden. Das jährliche Einsparpotenzial wird von Gesundheitsökonomen auf 700 Mio. Franken beziffert. Der Aufwand, solche Interaktionsrisiken zu erfassen, ist ge-ring, der Nutzen beträchtlich, gerade bei kostenintensiven Patienten, die mehrere Medikamente nehmen müssen.
Fazit: Es braucht ein koordiniertes Gesundheitsinformationssystem auf einer gemeinsam vereinbarten Datenbasis. Nur so ist eine kohärente Gesundheitspolitik möglich. Insbeson-dere müssen dazu datenbasierte Grundlagen erarbeitet oder sichergestellt werden. Im weitern ist die Schliessung der heute bestehenden statistischen Lücken im gesundheitspoliti-schen Bereich unabdingbar. Und schliesslich muss geregelt werden, wie die Erhebung gesundheitsstatistischer Daten finanziert werden soll. Und hier klemmts. Das Gesundheits-wesen aber ist viel zu wichtig, als dass man nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ politisieren dürfte.
Wir brauchen dieses Gesundheitsinformationssystem auch, um die Gesundheitsziele zu erreichen, welche die Schweiz fürs 21. Jahrhundert im Rahmen des WHO-Programms definiert hat. Zu diesen Zielen gehören zum Beispiel eine optimale, qualitätsorientierte Gesundheitsversorgung; die Förderung der Gesundheit und Autonomie im Alter; die Verringerung von Krankheiten; oder die Stärkung der psychischen Gesundheit bei Jung und Alt. All dies können wir nur erreichen, wenn unsere Gesundheitspolitik auf mehr Wissen basiert.