Artikel Bea Heim im Tagesanzeiger vom 19.7.05
Eine Pannenserie in Schweizer Spitälern hat die Öffentlichkeit erschüttert und gezeigt: Zwischenfälle in der Medizin sind keine Ausnahmen, sondern viel häufiger, als es Patienten, Ärzteschaft, Pflegepersonal und Politiker wahrhaben wollen.
Auch die Medizin darf sich dieser Erkenntnis nicht verschliessen. Den Medien sei Dank! Sie haben aufgedeckt, was bisher gerne unter dem Deckel fachlichen Schweigens gehalten wurde. Man erinnert sich an die drei Babys, die wegen vertauschten Infusionslösungen sterben mussten; an den Patienten, dem das falsche Bein amputiert wurde; an die lange Reihe von medizinischen Fehlern, die in letzter Zeit für Schlagzeilen sorgten. Ein Chefarzt hat auf seiner Station ein Jahr lang sämtliche Zwischenfälle aufgelistet. Das Ergebnis ist erschütternd: Bei jedem zweiten Patienten ist es zu Fehlern gekommen. Rund ein Drittel der Fälle führte zu Komplikationen.
Reisserische Schlagzeilen tragen dazu bei, die Bevölkerung zu verunsichern. Das Risiko, Opfer eines «Kunstfehlers» zu werden, sei doppelt so hoch wie die Gefahr, im Strassenverkehr zu verunfallen, wird etwa behauptet. Da die Schweiz kaum über zuverlässige Daten hinsichtlich medizinischer Fehlleistungen verfügt, lässt sich die Behauptung nicht überprüfen. Auf ausländischen Studien basierende Hochrechnungen lassen aber vermuten, dass auch in der Schweiz jährlich rund 2000 Patienten Opfer medizinischer Fehler werden. Zu den häufigsten Ursachen werden Irrtümer bei der Medikamentenausgabe gezählt, aber auch die Übermüdung des Personals, die Hektik im Spitalbetrieb oder Missverständnisse unter Mitarbeitenden. Hält man sich die Komplexität der Abläufe in den Spitälern vor Augen, können die hohen Fehlerquoten nicht erstaunen.
Pflicht zur Qualitätssicherung
Von entscheidender Bedeutung für die Qualität der medizinischen Versorgung ist der ständig steigende Kostendruck. So hat die aktuelle politische Diskussion in erster Linie die Kosten im Visier. Sie kümmerte sich bisher wenig um die Sicherheit der Patienten. Aus Angst, durch Investitionen in Patientensicherheit und Qualitätskontrolle zusätzliche Kosten zu generieren wird übersehen, dass Fehlbehandlungen, Komplikationen, vermeidbare Rehospitalisierungen, aber auch die schleichend fortschreitende Unterversorgung von Chronischkranken die Gesundheits- und Invaliditätskosten erst recht in die Höhe treiben. Dieser Tatsache scheint sich selbst der Bundesrat nicht bewusst zu sein.
Kostensteuerung ohne Qualitätseinbusse in der Grundversorgung muss daher das Ziel sein. Seit bald zehn Jahren schreibt das KVG die Pflicht zur medizinischen Qualitätssicherung vor. Doch der Bund hat sich kaum darum gekümmert. Zahlreiche Spitäler und Arztpraxen haben das Problem erkannt. Die Wirkung in der Patientensicherheit ist jedoch angesichts fehlender gesamtschweizerischer Qualitätskonzepte und vernetzter Sicherheitsstrategien marginal. Bisherige Qualitätsbemühungen von Einzelpraxen blieben unkoordiniert. Bei den Spitälern beschränken sie sich meist auf die Ausstattung und die Optimierung von Abläufen. Die Zertifizierung von Verwaltungen und Operationssälen sagt aber wenig aus über die Behandlungserfolge. Eine Abstimmung der Qualitätskriterien zwischen ambulanter und stationärer Versorgung fehlt gänzlich. Selbst als die Sozial- und Gesundheitskommission des Nationalrates aktiv wurde, legte sich der Gesundheitsminister quer und gab erst nach, als auch der Ständerat den Vorstoss zur Qualitätssicherung und Patientensicherheit überwies. Das Parlament wird daher sehr genau verfolgen müssen, ob und wie rasch der Bund nun handelt.
Sparen heisst investieren
Die zentrale Herausforderung der Zukunft im Schweizerischen Gesundheitswesen ist die Garantie der Qualität im immer enger werdenden Kostenkorsett. Erst die konsequente Fehleranalyse in allen Spitälern und ein systematisches Qualitätsmanagement können aufzeigen, ob die richtigen Patienten die richtigen Leistungen im richtigen Mass erhalten. Hierin liegt der Schlüssel zur Kosteneinsparung ohne Leistungs- und Qualitätsabbau. So lassen sich Doppelspurigkeiten, überflüssige Untersuchungen und Operationen, Patientenrisiken und medizinische Fehler wirksam reduzieren. Wer sparen will, muss daher in die Qualitätssicherung investieren.
Befürchtungen, wonach der Bund jetzt ein nationales Kontrollsystem aufbauen werde, sind unbegründet. Vielmehr ist eine nationale Plattform zu schaffen. Unter der strategischen Federführung des Bundes sollen sich Ärzte und Pflegende, Spitäler und Kantone, Kassen und eine Patientenvertretung auf konkrete Massnahmen zur Patientensicherheit und zur Qualitätsförderung einigen. Das KVG verpflichtet den Bund zu Massnahmen in der Qualitätssicherung. Zu erwarten ist auch, dass für Spitäler minimale Fallzahlen als Grundbedingung für schwierige Eingriffe definiert werden. Die Spitäler müssten eigentliche Kompetenzzentren werden.
Das Parlament hat Klartext gesprochen, jetzt will der Bund handeln und alle Kliniken verpflichten, sich einem Fehlermeldesystem anzuschliessen, kritische Zwischenfälle zu analysieren und zu melden. Die Informationen sollen verhindern, dass derselbe Fehler mehrmals passiert. Aber wann startet die nationale Plattform mit der Erarbeitung der Qualitätsstrategie?
Auch die Krankenkassen müssten ihren Einfluss auf die medizinische Qualität hinterfragen. Um ihre Pflicht zur Kostenkontrolle wahrzunehmen, setzen sie ein Instrumentarium ein, das in erster Linie wirtschaftlicher Logik folgt und wenig Rücksicht nimmt die Praxis. So sehen sich Ärzte zunehmend vor den Gewissensentscheid gestellt, kostenintensive Therapien, wie sie beispielsweise für Krebs-, oder Chronischkranke nötig sind, fortzuführen. Ein Qualitätsmanagement erlaubte, die Notwendigkeit der Behandlung auszuweisen. Wirtschaftlichkeitsprüfungen dürfen sich per Definition nicht nur auf einen Kostenvergleich beschränken. Ihre Aufgabe ist es, bei der Kostenkontrolle ein Wirtschaftlichkeitsinstrument anzuwenden das die Diagnosen und den Schweregrad der Erkrankungen berücksichtigt. Sonst riskieren sie zu Recht den Vorwurf, Anreize zur Unterversorgung von Chronischkranken zu schaffen.