Beurteilung der Wirtschaftlichkeit im Rahmen des KVG. Differenzierte Kriterien

  • 09. März 2005
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Eingereichter Text
Der Bundesrat wird beauftragt, zusammen mit den Leistungserbringern, Vertretungen der Patientenschaft und den Versicherern zu prüfen, ob die in den Artikeln 32 und 56 KVG postulierte und in den Artikeln 76 und 77 KVV präzisierte „Kontrolle der Wirtschaftlichkeit der Leistungen“ mittels differenzierterer Kriterien definiert und rechtlich verankert werden kann. Insbesondere ist die rechtliche Verankerung folgender Kriterien zu prüfen:
a. Kriterien, die den Case Mix einer Praxis oder Ärztenetzwerkes berücksichtigen; und/oder
b. morbiditätskorrelierte Kriterien.

Begründung
Das Phänomen der Überarztung trägt einige Brisanz in sich, ebenso eine mögliche medizinische Unterversorgung aus Kostengründen. Dies zu ermitteln ist Sache der Krankenkassen. Im Gerichtsfall entscheidet das EVG. Um die Wirtschaftlichkeit von Leistungen in einer Praxis zu beurteilen, beachtet man bei der Patientenstruktur lediglich Alter und Geschlecht (s. Art. 28 Abs. 1: „Statistische Kontrolle der Kosten nach Geschlecht, Alter, Wohnort und Leistungserbringer“).
Versicherer und Versicherungsgericht benutzen bei der Prüfung einer allfälligen Überarztung die sogenannte „statistische Methode“ und definieren einen Durchschnitts- oder Mittelwert. Dabei bleibt der zentrale Faktor „Patientenmix“, d. h. die Morbiditätsdifferenzierung der Patientenstruktur, unbeachtet. Dies relativiert die Aussagekraft des üblicherweise angewendeten Mittelwertes.
Vom Indiz zum Beweis: Bis 1970 diente die Mittelwertüberschreitung den Gerichten lediglich als Indiz einer möglichen Überarztung. Heute wird sie als Beweis angesehen. Diese Art der Beurteilung lässt wichtige Aspekte wie die Schwere der Krankheiten oder den Case Mix ausser Acht.
In der Antwort auf die Interpellation Teuscher 04.3392 bestätigt der Bundesrat „die damit verbundene Schwierigkeit aussagekräftiger Vergleiche“. Die undifferenzierte Mittelwertlimite erlaubt keine überzeugende Beurteilung der Angemessenheit einer medizinischen Behandlung in Praxis und Ärztenetzwerk.
Das führt zu unbefriedigenden Urteilen, birgt die Gefahr einer Abwärtsspirale in der medizinischen Grundversorgung und setzt falsche Anreize. Je mehr der prozentuale Mittelwert unterschritten wird, desto tiefer sinkt er. Ärztinnen und Ärzte sehen sich so zunehmend vor den Gewissensentscheid gestellt, ob und wie lange sie noch in der Lage sein werden, kosten- und zeitintensive Kranke zu behandeln. Krebskranke, polymorbide und depressive Menschen oder Aidskranke riskieren, nicht mehr lege artis behandelt zu werden. Andererseits könnte es gar zu einer indirekten Verteuerung in der Gesundheitsversorgung kommen, weil aufwendige Patientinnen und Patienten schneller in Spezialpraxen oder ins Spital weitergeleitet werden.
Auch das Schweizerische Gesundheitsobservatorium kritisierte in einer Medienmitteilung vom 11. Oktober 2004 die Mängel des von Santésuisse und vom EVG angewandten Mittelwertvergleichs. Dieser berücksichtige zu wenig die Besonderheiten der einzelnen Praxen und deren Patientenstruktur. Er lasse zudem die Thematik Angemessenheit und „Qualität der medizinischen Leistungen“ ausser Acht.
Da die Schweiz noch keine allgemein etablierte Methode der Qualitätsmessung kennt, hat sich der Bund zumindest für die Wirtschaftlichkeitsbemessung mit den Versicherern und Leistungserbringern auf solide und aussagekräftige Vergleichskriterien zu einigen. Artikel 118 der Bundesverfassung verpflichtet den Bund zum Schutz der Gesundheit. Als Garant des Gesundheitsschutzes hat er demnach die richtigen Anreize und Messkriterien zu setzen. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit darf dabei nicht zulasten der Gesundheitsversorgung der Patientinnen und Patienten gehen, vor allem nicht zulasten der Chronisch- und Schwerkranken.

Stellungnahme des Bundesrates vom 11. Mai 2005
Zunächst möchte der Bundesrat auf den folgenden Punkt hinweisen: In der Krankenversicherungsgesetzgebung ist zwar der Grundsatz verankert, dass die Wirtschaftlichkeit der Leistungen durch die Versicherer kontrolliert wird, doch es ist nicht festgelegt, nach welcher Methode bzw. welchen Methoden und gestützt auf welches Kriterium bzw. welche Kriterien diese Kontrolle zu erfolgen hat (Art. 56 KVG in Verbindung mit Art. 76 KVV). Der Gesetzgeber ging in diesem Zusammenhang von der Auffassung aus, dass die Krankenversicherer den gesetzlichen Auftrag zur Ausübung dieser Kontrolle erhalten haben und daher auch selbst die Methode auswählen sollen, die für die Wahrnehmung dieser Aufgabe am geeignetsten ist.
Im Rahmen einer mittlerweile gut etablierten Rechtsprechung befand das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG), dass die von Santésuisse verwendete statistische Methode ausreicht, um das Vorliegen einer Überarztung festzustellen. Ausserdem hielt das EVG fest, dass ein hohes Kostenvolumen eines Arztes, das auf der Grundlage dieser Methode festgestellt wird, nicht nur ein Indiz, sondern ein Beweismittel für das Vorliegen einer Überarztung darstellt. Innerhalb der gleichen Rechtsprechung befand das EVG, dass nur dann von einer Überarztung ausgegangen werden kann, wenn eine beträchtliche Zahl der Rechnungen, die ein Arzt an einen Krankenversicherer stellt, im Durchschnitt deutlich über den Rechnungen von anderen Ärzten liegt, die in der gleichen Region tätig sind und eine ähnliche Patientenstruktur aufweisen, und dass keine Besonderheiten geltend gemacht werden können, die den Durchschnitt beeinflussen. Im Gegensatz zur Forderung im Postulat bildet die Berücksichtigung der Patientenstruktur (Case Mix) sowohl hinsichtlich der Morbidität als auch in Bezug auf das Alter und das Geschlecht bereits einen integrierenden Bestandteil der statistischen Methode, die von den Krankenversicherern angewandt wird. Aus diesem Grund ist es nicht notwendig, dieses Erfordernis in den Rechtsvorschriften explizit aufzuführen. Das Problem, das sich im vorliegenden Fall stellt, besteht somit nicht in der gesetzlichen Verankerung eines in der Rechtsprechung bereits klar festgehaltenen Erfordernisses, sondern vielmehr in der Einführung von praktischen Instrumenten und Indikatoren. Diese müssen einen möglichst optimalen Vergleich der ärztlichen Tätigkeit ermöglichen. Im Rahmen dieses Vergleichs sind nicht nur die Kosten der erbrachten Leistungen, sondern auch deren Qualität zu berücksichtigen (Erfassung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses). In diesem Zusammenhang ist eine Verbesserung der Datenbanken auf allen Ebenen, insbesondere im statistischen und im ambulanten Bereich, erforderlich.
Vor diesem Hintergrund weist die von Santésuisse verwendete statistische Methode zwar einige Mängel auf, doch gleichzeitig hat sie den bedeutenden Vorteil, dass sie eine standardisierte, breitangelegte, rasche und anhaltende Kontrolle der Wirtschaftlichkeit ermöglicht. Dies ergibt sich aus einer Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums über die wirtschaftlichen und qualitativen Aspekte von Arztpraxen. Ausserdem wird diese Methode von den Krankenversicherern verhältnismässig differenziert angewandt. Der Bundesrat verweist diesbezüglich darauf, dass die von den Krankenversicherern tolerierte Schwelle für die Überschreitung der Durchschnittskosten relativ grosszügig angesetzt ist und dass entsprechend den Zahlen, die in seiner Antwort auf die Interpellation Teuscher 04.3392 aufgeführt sind, nur wenige Fälle vor Gericht kommen. Damit ein Arzt in die „kritische“ Kategorie eingestuft wird, müssen seine Kosten nach Berücksichtigung der Patientenstruktur 20 bis 30 Prozent über den Durchschnittskosten der Vergleichsgruppe liegen. Wenn eine solche Überschreitung der Durchschnittskosten vorliegt, hat der Arzt die Möglichkeit, seine Kosten zu begründen. Gelingt ihm dies, was oft der Fall ist, wird das Verfahren eingestellt. Im gegenteiligen Fall hat er ein Jahr Zeit, um seine Kosten unter den Durchschnittswert der Kosten der Vergleichsgruppe zu senken. Erst wenn eine solche Kostensenkung nicht eintritt, werden auf gerichtlichem Weg Rückerstattungsforderungen gestellt.
Ausgehend von den obigen Ausführungen deutet nach Auffassung des Bundesrates nichts darauf hin, dass die Krankenversicherer einen unangemessenen Druck auf die Leistungserbringer ausüben und dass die Behandlung von chronischkranken und schwerkranken Patienten gefährdet ist. Der Bundesrat teilt zwar die im Postulat zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass die Patientenstruktur hinsichtlich Morbidität, Alter und Geschlecht möglichst homogen sein muss, damit die Methode des Vergleichs der Durchschnittskosten angewandt werden kann. Aus den oben dargelegten Gründen ist er jedoch der Auffassung, dass es nicht gerechtfertigt ist, die Krankenversicherungsgesetzgebung in diesem Sinne zu ergänzen.

Erklärung des Bundesrates vom 11. Mai 2005
Der Bundesrat beantragt die Ablehnung des Postulates

22.06.2007     NR     Behandlungsfrist verlängert
19.03.2009    NR     Zurückgezogen.

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